Neues aus China: Liu Guoliang sauer wegen IOC-Regeländerung



„Die PS auf die Straße bringen“ ist eine Redewendung, für die man üblicherweise hohe Geldbeträge ins Phrasenschwein entrichten muss. Damit die chinesische Olympia-Auswahl in Tokio nicht an der ersten Kreuzung hängen bleiben wird, hatten die Nationaltrainer in der letzten Woche ihre Spieler noch einmal während eines dritten Testturniers an die Grenzen getrieben. Liu Guoliang, Gesamtchef der Nationalmannschaften, äußerte sich danach zu den Erfolgsaussichten bei Olympia folgendermaßen: „Wir brauchen Athleten, die die Kraft haben zurückzuschlagen, wenn sie auf Schwierigkeiten stoßen.“ Er führte weiter aus, dass die letzten Runden in Tokio nicht die Schwersten sein, sondern die Ersten: „Die Olympischen Spiele sind eigentlich in den ersten ein oder zwei Runden am schwierigsten zu spielen, denn jeder ist plötzlich mit einer K.O.-Situation konfrontiert, einer Art von Kampf um Leben und Tod.“ Liu macht deutlich wovor die Chinesen am meisten Sorge haben. Sie fürchten nicht, dass die Spieler der gegnerischen Nationen zu starke Leistungen abrufen könnten. Nein, die Chinesen sind sich weiterhin sicher, dass ihre Spieler mit Abstand die Besten sind. Ihre Angst besteht vor Ihnen selbst. Das macht die ersten beiden Runden so gefährlich: Sobald Ma Long, Fan Zhendong und Co. einmal ihren Rhythmus gefunden haben, werden sie die Halbfinals und Finals aufgrund ihrer spielerischen Überlegenheit für sich entscheiden. Doch am Anfang muss der Motor erstmals ins Rollen kommen, „die PS auf die Straße“ eben. Manchmal können eben auch Phrasen Wahrheiten wiedergeben. 

Liu selbst wird dabei nicht auf der Bank Platz nehmen dürfen, die Regularien lassen dies nicht zu. Bei den Männern wird Qin Zhijian als Coach fungieren, für die Damen Li Sun. Das Mixed-Doppel Xu Xin/Liu Shiwen wird in Tokio dagegen von Ma Lin betreut werden, der damit sein Debüt als olympischer Trainer gibt. Auch die Abwesenheit Lius von der Trainerbank wird in China diskutiert: Man sorgt sich, da der Olympiasieger die Mannschaft bei den letzten vier Olympischen Spielen angeführt hatte und gerade als Stabilisator in schwierigen Momenten geschätzt wird. Legendär sind seine Aussagen, Ma Long würde er in enormen Drucksituationen zum Barbesuch raten, um ein wenig Alkohol zu konsumieren. Auch wenn dieser Ratschlag sicherlich nicht im Lehrbuch zu finden ist, macht er deutlich wie Liu tickt: Pragmatisch denken, eine Lösung finden die funktioniert, damit der Erfolg gesichert wird. Dazu darf er auch mit nach Tokio reisen. 

Das größte Unbehagen auf chinesischer Seite wurde allerdings durch eine Regeländerung ausgelöst: Die japanische Delegation hatte dem IOC vorgeschlagen, dass es in Tokio verboten sein soll, den Tisch zu berühren und den Ball „anzupusten“. Für viele Spieler ist es zur Gewohnheit geworden, vor einem Ballwechsel die Hand noch einmal am Netz abzuwischen. Das IOC nahm den Vorschlag an, Liu Guoliang war damit kaum einverstanden. Er monierte, dass die Olympiavorbereitung durch die „neuen“ Regeln zur Pandemiebekämpfung erheblich erschwert werde. Im Besonderen wird er dabei an Ma Long gedacht haben: Der Starspieler der Chinesen kassierte beim dritten Testturnier mehrmals gelbe Karten für Verstöße gegen die Hygieneregeln am Tisch und wurde dadurch in seinem Spielrhythmus unterbrochen. Liu Guoliang hatte Wert darauf gelegt, dass alle „olympischen Regeln“ auch beim Test Anwendung fanden. Neben Ma Long äußerten sich auch Fan Zhendong und Liu Shiwen kritisch zum veränderten Hygienekonzept, denn sollte in Tokio bei leichten Verstößen tatsächlich sofort die gelbe Karte gezückt werden, könnte dies Matchverläufe entscheidend beeinflussen. Einige Stimmen vermuten, dass der Antrag aus Japan auch genau darauf abgezielt haben könnte. Denn wie auch Liu Guoliang schon wusste: Die Chinesen sind nur dann angreifbar, wenn sie ihren Spielrhythmus nicht finden. Anders gesagt: „Wenn sie die PS nicht auf die Straße bringen.“

Text: Ludger Santel

Bild: Ludger Santel/ ITTF